boxleitnerb
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24. Kapitel
Mit einer Mischung aus Wut und Trauer betrat Thomas die Schenke. Nach dem Streit und der diesmal wohl endgueltigen Trennung war er am Boden zerstoert. Zum Glueck war Heinrich auf Handelsreise, denn das Letzte, was er wollte, war ueber seine Gefuehle zu reden.
Der Raum war gut gefuellt, aber ganz hinten im Eck war noch ein kleiner Tisch frei. Mit einem grossen Humpen Bier in der Hand sank Thomas kraftlos auf den Stuhl.
Das Gebraeu war warm und schal, aber das stoerte ihn nicht weiter. Worauf er wirklich aus war, war der Alkohol, denn alleine in dem konnte er an diesem schlimmen Abend seine Sorgen ertraenken.
Als auch nach dem zweiten Bier der Schmerz nicht nachlassen wollte, ging Thomas zum Wirt vor und bat ihn um etwas Staerkeres, waehrend er grosszuegig ein paar Muenzen auf den Tresen legte. Der Wirt grinste breit und fragte: "Liebeskummer?"
Aber der junge Mann zeigte keine Regung und so musste der Wirt sich damit begnuegen, ihm eine Flasche billigen Kornschnaps zu einem deutlich ueberteuerten Preis zu verkaufen.
Wieder an seinem Platz angelangt, machte Thomas sich gar nicht erst die Muehe, das Gesoeff in einen Becher zu fuellen und setzte die Flasche gleich an den Mund. Es brannte wie Feuer in seinem Hals und aus der wohligen Waerme, die er sich erhofft hatte, wurde ein unangenehmes Ziehen in seinen Eingeweiden.
Was solls?! dachte er sich Ein Schmerz ersetzt einen anderen und dieser hoert wenigstens nach einer kleinen Weile auf...
Die Zeit verging unertraeglich langsam, was es Thomas umso schwieriger machte, sich von seinen Gefuehlen abzuschotten. Wenn er gerade eine besonders ueble Phase durchlebte, hieb er mit der Faust so stark auf die Tischplatte, dass sich die anderen Gaeste kurz zu ihm umdrehten. Als sie aber sahen, dass er offensichtlich schon betrunken war, lachten sie und widmeten sich wieder ihren eigenen Kruegen.
Draussen war es laengst dunkel geworden und die Kneipe leerte sich allmaehlich. Thomas hing an der Flasche, als sei sie das Einzige, was ihn vor dem voelligen Untergang bewahren koennte. Sein Blick war glasig, sein vor Alkohol stinkender Atem ging rasselnd und er fuehlte sich wie ein Haeufchen Elend.
Besorgt kam der Wirt zu ihm herueber und meinte: "Ich glaube, das reicht fuer heute! Du siehst nicht so aus, als ob dir das Zeug gut bekommt!"
Ohne grossen Widerstand liess sich Thomas die Flasche abnehmen – sie war sowieso nahezu leer. Auf den dicken Wirt gestuetzt, quaelte er sich zur Tuer. Mit einem Klaps auf die Schulter sandte dieser ihn davon.
Er hatte erhebliche Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten und haeufig fiel er hin, um sich dann spontan auf das Pflaster zu erbrechen. Noch nie in seinem Leben war er so betrunken gewesen und noch nie hatte er sich so miserabel gefuehlt wie heute Nacht.
Torkelnd, ja teilweise kriechend, fand er den Weg zurueck zu dem Patrizierhaus. Die Treppen zu seinem Zimmer stellten sich in seinem Zustand als unueberwindliches Hindernis dar. Also sank er im Flur zu Boden, rollte sich zusammen und fiel in einen unruhigen alptraumbehafteten Schlaf.
****
Zur gleichen Zeit lag Anna in ihrem Bett, hatte das Gesicht in ihrem Kissen versteckt und weinte. Seit Thomas fortgegangen war, hatte die Traenenflut einfach nicht versiegen wollen, und sie hatte das Gefuehl, als koenne sie nie wieder aufhoeren, als koenne sie nie wieder gluecklich sein. Ihr ganzer Koerper schmerzte, die Eingeweide schienen mit Qual zu pulsieren. Als die Gaeste fortgegangen waren, hatte Anselm sie ausgeschimpft, was ihr gerade recht gekommen war, denn so konnte niemand sich wundern, weshalb sie so fertig mit den Nerven war, und es hatte sie auch niemand aufgehalten, als sie in ihr Zimmer gefluechtet war.
Wie sollte sie nur leben, wenn Thomas nicht bei ihr war? Wie sollte sie zusehen, wenn er Berta heiratete? Wenn sie Kinder miteinander hatten? In diesem Augenblick schien der Gedanke, in die Tauber zu springen und das kuehle Wasser einzuatmen, Anna ausgesprochen angenehm, wie eine Erloesung. Aber dann kaeme sie in die Hoelle! Das war das einzige, was sie davon abhielt, auf der Stelle aus dem Haus zu verschwinden und den Plan in die Tat umzusetzen.
Selbst als sie vor Erschoepfung einschlief, flossen die Traenen weiter.
****
Als Anna am naechsten Morgen zum Fruehstueck herunterkam, spaeter als sonst, im Nachthemd, die Haare ungekaemmt und wirr den Oberkoerper umgebend, totenblass mit rotgeweinten Augen, waren alle anderen schon in der Kueche am Essen. Auch Thomas war da, aber Anna wagte nicht, ihn anzusehen, weil sie befuerchtete, sofort losheulen zu muessen, wenn sie es tat.
Steif und so langsam, als hingen Bleigewichte an allen Gliedern, liess sie sich auf ihren Stuhl sinken.
Thomas hatte sein Fruestueck noch nicht angeruehrt. Ihm war nicht nach essen zumute und er hatte schreckliche Kopfschmerzen. Es war, als waere sein ganze Kopf voller kleine Zwerge mit ihren Spitzhacken, die sie unablaessig gegen seinen Schaedel schwangen.
Besorgt um ihn, streichelte Berta seinen Nacken und Thomas liess es geschehn. Schliesslich musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, sie wirklich zu heiraten. Er mochte zwar nicht dasselbe wie fuer Anna empfinden und so anmutig war sie auch nicht – aber offensichtlich mochte sie ihn sehr gern und umsorgte ihn ruehrend. Er musste ihr gerechterweise zumindest eine Chance geben, gestand er sich ein.
Anna sah aus den Augenwinkeln, wie Berta ihn liebkoste, und das loeste bei ihr den Wunsch aus, sich auf ihre aeltere Schwester zu stuerzen und ihr jedes Haar einzeln auszureissen vor Eifersucht. Stattdessen liefen nur wieder stumme Traenen ueber ihr huebsches Gesicht.
Lustlos stocherte er auf seinem Teller herum. Thomas war sich Anna's Anwesenheit voll und ganz bewusst, und das machte es nur noch schlimmer. Wie sollte er es ertragen, fortan immer in ihrer Naehe und doch nicht mit ihr zusammen zu sein?
Eine Loesung musste her, zumindest fuer heute! Er wandte sich an Berta und laechelte sie an: "Was haelst du davon, wenn wir heute einen Ausflug machen? Wir koennen uns was zu essen mitnehmen und es uns im Gruenen gemuetlich machen." Hastig drehte er den Kopf zu seinem Schwiegervater in spe und beeilte sich zu sagen: "Natuerlich nur, wenn du mich fuer ein paar Stunden entbehren kannst?"
Anna, die gerade auf einem Stueck Brot herumkaute, spuerte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Allein der Gedanke, dass die beiden es sich irgendwo gutgehen liessen – vielleicht an dem Platz an der Tauber, an dem Thomas und sie sich noch vor wenigen Tagen geliebt hatten – war unertraeglich.
Der nickte nur laechelnd. Wenigstens eine Sache, die in seiner Familie glatt lief! Er war immer noch veraergert ueber seine miesepetrige Tochter, die er bei ihrem Temperament wohl nie verheiraten konnte!
Erst zoegerlich, dann aber bestimmter griff Thomas Berta's Wurstfinger und drueckte sie zaertlich. "Wir koennen gleich nach dem Essen los, draussen ist gerade so schoenes Wetter!" Dass ihm ausserdem die frische Luft bei seinen Kopfschmerzen helfen wuerde, verschwieg er lieber.
Berta nickte uebergluecklich: "Das waere schoen! Ich kenne ein wunderbares Plaetzchen an der Tauber!" "Entschuldigt mich!" konnte Anna noch murmeln, dann sprang sie auf, das Messer fiel klirrend auf den Boden, und sie schaffte es gerade noch in den Hof, wo sie neben der Tuer in die Knie brach und das gerade heruntergewuergte karge Fruehstueck auf den Boden spuckte.
Mitleid wallte in Thomas auf, aber er konnte – durfte! – nicht in der Vergangenheit schwelgen und riskieren, dass sie wieder zueinander fanden. Er zwang sich ein Stueck Brot und etwas Kaese in den Mund und brachte es sogar herunter. Nachdem alle fertig waren, half er Berta, einen Korb mit Leckereien zu richten, die sie mit glaenzenden Augen einpackte. Die beiden verabschiedeten sich von den Eltern und machten sich auf den Weg, wobei man Berta froehlich pfeifen hoerte, bis sie verschwunden waren.
****
Anna verbrachte den Tag in schrecklichen Tagtraeumen, ob Thomas Berta wohl an der Tauber so nahe gekommen war, wie ihr selbst. Wie in Trance hatte sie ihre taeglichen Arbeiten verrichtet und die von Berta noch dazu, was Anselm und Hiltrud dazu veranlasst hatte, erstaunte Blicke auszutauschen. Dabei hatte sie kein Wort gesprochen und auf Fragen nur mit Ja, Nein und Schulterzucken geantwortet. Noch niemals hatte sie sich so hundeelend gefuehlt.
Thomas ging es zwar nicht viel besser, aber die nette Gesellschaft und die Natur halfen ein wenig. Sie streiften durch die Wiesen, liessen die Fuesse in der Tauber baumeln und taten sich an den Speisen im Korb guetlich. Berta war so schlau gewesen und hatte ein Brettspiel mitgenommen, so dass ihnen nicht langweilig wurde. Im kam das ganz recht, denn so konnte er wenigstens fuer eine kleine Weile den Schmerz vergessen.
Die Sonne hatte den Zenit deutlich ueberschritten, als sie den Heimweg antraten und eine dreiviertel Stunde spaeter zu Hause ankamen.
Anna deckte gerade den Tisch fuers Abendessen. Hiltrud stand am Herd, aber sie liess ihre Tochter keine Sekunde aus den Augen und belauerte sie ohne Unterlass mit argwoehnischem Blick.
Kaum war Berta durch die Tuer, das schwaermte sie schon los: "Hach, das war ein so schoener Tag heute!" Thomas trottete hinter ihr herein und sagte nichts.
"Mhm!" war alles, womit Hiltrud reagierte. Sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Anna merkte es gar nicht. Sie hatte zuviel Muehe, ihre Traenen zurueckzuhalten, die schon wieder kommen wollten.
Mit einem flauen Gefuehl im Magen setzte sich Thomas an den Tisch und Berta nahm direkt neben ihm Platz. Die Naehe zu Anna brachte die Gefuehle, die er den ganzen Tag erfolgreich verdraengt hatte, wieder hoch. Nervoes rutschte er hin und her und senkte den Blick.
Nach einer Weile kam auch Anselm in die Kueche, und schliesslich sass die ganze Familie zusammen. Das Abendessen begann schweigend. Annas Eltern tauschten unbehagliche Blicke und schienen sich nicht einigen zu koennen, ob ein Gespraech begonnen werden sollte oder wer es begann.
Thomas bemerkte es und fragte sich, was denn passiert sei. Gespannt hielt er den Atem an.
"Anna…." begann Hiltrud ploetzlich, "Ich mache mir Sorgen um dich....du hast dich veraendert. Du bist abwesend, staendig traurig, du uebergibst dich morgens....du hast Gerhild und ihr Verhalten verteidigt....Anna....ist es moeglich, dass du ein Kind bekommst?"
Thomas' Kinnlade klappte herunter. DAS hatte er nicht erwartet! Sicher hatten er und Anna sich mehrfach geliebt, aber der Gedanke, dass das ein Kind hervorbringen konnte, war ihm – und soweit er das beurteilen konnte, auch ihr – nicht gekommen. Auch Berta war von der Frage geschockt.
Mit aufgerissenen Augen sah sie ueber den Tisch zu ihrer Schwester.
Die Luft war so gespannt, dass man sie mit einem Messer haette schneiden koennen.
Es herrschte vollkommene Stille und alle Blicke waren auf Anna gerichtet.
Anna starrte ihre Mutter an. Niemals hatte sie daran gedacht, dass aus dem Liebesspiel durchaus Folgen entstehen konnten, auch wenn sie nicht in flagranti ertappt wurden! Wann hatte sie das letzte Mal ihre Regel gehabt? Vor etwa drei Wochen! Wann muesste sie sie wieder bekommen? Was, wenn sie ausblieb, was dann? Anna wollte in Panik geraten und "ICH WEISS ES NICHT!" schreien, aber dann haette sie sich verraten. Sagen konnte sie allerdings auch nichts. Sie sass auf ihrem Platz wie eine Salzsaeule und bewegte stumm die Lippen.
Anselm ergriff mit zitternder Stimme das Wort: "Wenn wir dir helfen sollen, dann musst du ehrlich zu uns sein! Ich...hast du mit jemandem...?"
Was jetzt? Wenn sie nein sagte und dann wirklich schwanger war…dann konnte sie mit der Hilfe ihrer Eltern vermutlich nicht rechnen. Ihr Blick zuckte fuer den Bruchteil einer Sekunde flehend zu Thomas hinueber. Sie blieb stumm.
Der kaempfte selber grade mit einer Angstattacke. Er war so hilflos wie sie. Wenn sie es geheimhalten wollten, dann durfte er sich nicht einmischen.
"Es reicht!" Hiltrud schlug mit der Faust auf den Tisch. "Wir beide gehen morgen zur Hebamme. Die wird dich untersuchen, und dann ist alles klar!"
O Gott! dachte Thomas. Die Frau wuerde sicher feststellen, dass Anna keine Jungfrau mehr war. Auch wenn Anselm nicht zuliess, dass sie an den Pfahl kam – angenehm wuerde es auf gar keinen Fall fuer Anna werden. Er wuenschte sich so sehr, dass er etwas tun koennte, aber es war aussichtslos!
Anna schien in sich zusammenzufallen. Natuerlich wuerde die Hebamme sofort sehen, dass sie entjungfert war. Es war alles aus! Alles vorbei!
Wie eine Gewitterwolke hing das Unheil ueber dem Tisch. Hin und wieder erlaubte Thomes es sich, zu Anna herueber zu schielen. Er hatte eine Heidenangst um sie und sich selbst. Still ass er seine Mahlzeit, doch innerlich war er zutiefst aufgewuehlt.
Anna konnte nichts essen. Allein bei dem Gedanken kam ihr schon die Galle hoch. Ich bin geliefert! dachte sie nur immer wieder. Sie war gruen im Gesicht. Und in all ihrem Elend fing sie stumm an zu beten, wiederholte im Geiste nur immer wieder: Lieber Gott, lieber Gott, bitte hilf mir, bitte hilf mir! Und das Wunder geschah. Ploetzlich spuerte sie, dass warme Fluessigkeit zwischen ihren Schenkeln hinablief. Blut. Sie war nicht schwanger! Anna fuhr hoch als habe sie etwas gebissen und schrie ploetzlich: "Wie KANNST du so etwas denken, Mutter!? Ich habe mit NIEMANDEM geschlafen, und ich bekomme auch kein Kind!" Damit stuermte sie aus dem Raum.
Betreten starrte Hiltrud auf den kleinen Blutfleck, der auf dem Stuhl zurueckgeblieben war. Man konnte ihr die Erleichterung ansehen, als sie zu Anselm sagte: "Gott sei Dank! Nicht auszusehen, wenn sie wirklich schwanger waere! Trotzdem macht mir ihr Verhalten Sorgen.."
Anselm laechelte froh darueber, dass sie sich geirrt hatten.
Und Thomas fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen.
Berta dagegen wirkte irritiert: "Aber Mutter…wenn sie wusste, dass nichts sein kann, haette sie doch gleich so reagiert, oder?"
Hiltrud sah ihre Tochter an: "Ach, ich weiss doch auch nicht, was mit ihr los ist! Ich verstehe Anna in letzter Zeit ueberhaupt nicht mehr! Sie verhaelt sich vollkommen unerklaerlich!"
Berta musterte Thomas nachdenklich: "Vielleicht ist sie eifersuechtig….weil sie noch keinen Geliebten hat!"
Er blickte sie an: "Ja, vielleicht..."
Zur gleichen Zeit sass Anna im Abtritt, hatte beide Arme um sich geschlungen und wiegte sich weinend vor und zurueck. Dabei wusste sie gar nicht, warum sie weinte, ob Liebeskummer, die Erleichterung oder der tiefsitzende Schock schuld waren. Sie wuenschte sich nur, dass Thomas wenigstens spaeter einmal nach ihr sehen wuerde, nur um zu zeigen, dass ihm nicht voellig gleichgueltig war, was mit ihr passierte.
"Ich sehe besser mal nach ihr!" erhob sich Thomas vom Tisch. Immerhin war er an ihrer Situation nicht unschuldig. Berta nickte und war froh, dass sie es nicht utn musste, denn im Moment hatte sie mit ihrer Schwester nicht das bester Verhaeltnis.
Thomas lief ein paar Minuten im Haus herum, dann fand er sie. Ihr Anblick brach ihm das Herz. Wieviel Schmerz kann ein Mensch wohl ertragen? fragte er sich. Er hockte sich ihr gegenueber an die Wand. Er wollte sie troestend in die Arme nehmen, aber genau das ging doch nicht!
Als er eintrat, klopfte ihr Herz wie wahnsinnig. Eilig wischte sie sich uebers Gesicht, versuchte, die Traenen zu verbergen, aber es war sinnlos, es kamen immer neue nach. Sie konnte ihn nicht ansehen und schaute die ganze Zeit verlegen zu Boden.
Seine Stimme war leise und leicht zittrig: "Anna, ich...wie geht es dir?" Er kam sich dabei unheimlich bloede vor.
"Gut!" log sie, eindeutig und ebenso leise wie er.
Er druckste herum: "Ich bin froh, dass du nicht...dass du nicht schwanger bist. Das haette alles noch viel komplizierter gemacht..."
In diesem Moment hasste sie ihn. Sie schnaubte: "Fuer dich doch nicht!"
Er polterte los: "Glaubst du...", dann besann er sich und senkte die Stimme deutlich: "Glaubst du vielleicht, ich wuerde dich im Stich lassen, wenn du es waerst?"
Sie war zusammengezuckt, als er laut geworden war, hatte sich in ihre Ecke gedrueckt und senkte jetzt den Kopf: "Ich haette niemals zugegeben, wer der Vater gewesen waere!"
"Du haettest es alleine auf dich genommen?" wollte er geruehrt wissen.
"Das wuerde ich nie von dir verlangen, ich hoffe, das weisst du!"
Sie zuckte die Schultern: "Sicher wuerdest du das nicht. Aber was wuerde es uns bringen, wenn wir beide unter der Wahrheit leiden? Nein, nicht nur wir beide....Berta auch noch!"
Betretend gestand er: "Du hast wohl Recht..."
Dass er ihr einfach so zustimmte hatte sie nicht erwartet! Und ihr Liebeskummer verwandelte sich langsam ernsthaft in Wut. Sie nickte und laechelte: "Ja...so ist das....wenn ich schwanger gewesen waere, dann haette ich meinen Mund gehalten, und du auch. Vielleicht haette ich eine huebsche Geschichte von einem fahrenden Haendler erzaehlt, in den ich mich verliebt habe. Und noch vor eurer Hochzeit waere ich im Kloster in Wuerzburg gewesen, haette dort mein Kind zur Welt gebracht, und die guten Schwestern haetten es im Main ersaeuft!"
"Denkst du, das waere mir gleichgueltig? Denkst du das wirklich?" fluesterte er. Dann lauter: "Wenn schon alles zusammengebrochen waere, dann haette ich mir dir mit wehenden Fahnen untergehen wollen...Dass wir nicht zusammensein duerfen, damit muss ich mich wohl abfinden. Aber dass dein Leben zerstoert ist, das wuerde ich nie ertragen!"
"Wollen und tun sind zwei Paar Stiefel, Thomas!" antwortete sie leise. Sie sah ihn immer noch nicht an.
Beschaemt ueber die eigene Schwaeche blickte er zu Boden.
Anna nickte erneut: "Ja....genau so....genau das haettest du getan, wenn ich morgen mit meiner Mutter von der Hebamme gekommen waere!"
Thomas sah ihr direkt in die Augen: "Das ist nicht wahr...Ich will ehrlich zu dir sein: Ich weiss nicht genau was ich gemacht haette. Auch ich hatte heute morgen schreckliche Angst!"
"Das ist mir klar!" Jetzt erwiderte sie seinen Blick. "Schliesslich waere nicht nur mein Leben am Ende gewesen, sondern unter Umstaenden auch deins, wenn ich gesagt haette, wer der Vater ist!"
"Ich haette es dir nicht uebelgenommen – du haettest jedes Recht dazu gehabt!" behauptete er.
"Kein Wort haette ich gesagt." fuhr sie ihn fluesternd an, "Kein einziges Wort! Und weisst du, warum!?"
Schweigend und wie gelaehmt wartete er ihre Antwort ab. Er konnte sich schon denken, was sie sagen wollte und schluckte schwer.
"Weil ich dich liebe!" fauchte sie, "Und weil ich dachte, dir geht es ebenso!"
Da waren diese Worte wieder. Einst so suess, und jetzt bereiteten sie beiden so viel Leid. "Aber ich liebe dich doch auch!" wisperte er und Traenen traten in seine Augen, "Es frisst mich von innen auf, aber es geht einfach nicht, es geht nicht, es geht nicht..." Zum Schluss hin waren seine Worte immer leiser geworden, nur ein Hauch in der Luft.
"Wenn du mich lieben wuerdest", sie schluchzte wieder, "...dann haettest du es da unten am Tisch gesagt! Dann haettest du da unten alle Verantwortung uebernommen und gesagt, dass du mich auf der Stelle zu deiner Frau machen willst, damit ich nicht an den Pfahl oder ins Kloster muss!"
Ihre Worte trafen wie Blitze in sein Herz. Er fuehlte sich schlimm, weil sie irgendwie Recht hatte. Aber was waere aus Berta geworden? Wie haette die Familie reagiert? Haette sein Bekenntnis ein gutes Ende herbeigefuehrt oder alles nur noch schlimmer gemacht? Er wusste es nicht. Thomas konnte auf ihre Vorwuerfe nichts erwidern.
Sie bemuehte sich gar nicht mehr, die Traenen zurueckzuhalten: "Schweigen ist eine Form von Zustimmung, habe ich Recht?"
Mit traenenden Augen und laufender Nase sah er sie wie durch einen Schleier von sich weggleiten. Mit seiner Feigheit hatte er sie beide beschaemt. Nicht, dass er sich nach gestern Abend noch irgendwelche Hoffnungen gemacht haette. Aber wenn sie schon an seiner Liebe zweifelte, dann hatte er alles kaputt gemacht.
Anna stand auf, ging zur Tuer und nahm den Knauf, um zu gehen. Doch dann blieb sie noch einmal stehen und sah auf ihn hinab: "Und weisst du, was das allerschlimmste ist?"
Betruebt schuettelte er den Kopf.
Ihre Stimme ueberschlug sich, weil sie so sehr weinte, aber sie sprach trotzdem aus, was sie dachte: "Du bist ein elender Feigling und du liebst mich nicht, aber ich liebe dich immer noch!"
Haette sie ihn fest ins Gesicht geschlagen – es haette keinen Unterschied gemacht. Thomas zitterte am ganzen Koerper und schaute schluchzend zu Boden.
"Hoer auf zu heulen!" fluesterte sie, "Du hast das, was du Liebe nanntest, gerade mit Fuessen getreten, also trauere nicht darum!"
Wie unter Schlaegen kruemmte er sich und konnte sich nicht beruhigen. Am liebsten haette er sie angeschrien, sie solle verschwinden und ihn nicht so quaelen, aber er brachte nichts heraus.
Sie sah seine Qual. Und konnte es nicht ertragen! Sie liebte ihn eben. "Verdammt nochmal!" fluchte sie noch, bevor sie sich neben ihn kauerte und ihn in die Arme nahm.
Was fuer eine Ironie! Da war er hergekommen, um sie zu troesten und jetzt hatten sie die Rollen getauscht. Hemmungslos weinte er wie ein kleines Kind. Nichts, aber auch gar nichts haette ihn mehr treffen koennen. Wenn er schon am vorigen Abend gedacht hatte, ganz unten angekommen zu sein, dann war er jetzt noch viel tiefer gesunken.
"Schschsch...es ist ja gut. Alles wird gut!" fluesterte Anna und streichelte ueber sein Haar. Gleichzeitig dachte sie, dass er diese bloedsinnige Luege wohl niemals schlucken wuerde, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, um sein Leid zu lindern.
Nach einer schier endlosen Zeit wollten keine Traenen mehr nachkommen. Thomas hob langsam den Kopf und wischte sich mit der Hand uebers Gesicht. Gefuehle durchfluteten ihn, die er nicht fuer moeglich gehalten hatte. Er liebte sie in diesem Moment so wie nie zuvor, dafuer, dass sie trotz seines schrecklichen Versagens zu ihm stand, ihn liebte.
Sie versuchte ein Laecheln, das klaeglich misslang. Dann stand sie auf und oeffnete die Tuer.
Wie in Trance sah er zu ihr auf. Er war sich sicher, dass wenn sie jetzt durch diese Tuer ging, er sie fuer immer verloren hatte.
"Vergiss nie, dass ich dich so liebe, dass ich mein Leben fuer Deins gegeben haette!" wisperte sie. Dann verliess sie den Raum.
Mit einer Mischung aus Wut und Trauer betrat Thomas die Schenke. Nach dem Streit und der diesmal wohl endgueltigen Trennung war er am Boden zerstoert. Zum Glueck war Heinrich auf Handelsreise, denn das Letzte, was er wollte, war ueber seine Gefuehle zu reden.
Der Raum war gut gefuellt, aber ganz hinten im Eck war noch ein kleiner Tisch frei. Mit einem grossen Humpen Bier in der Hand sank Thomas kraftlos auf den Stuhl.
Das Gebraeu war warm und schal, aber das stoerte ihn nicht weiter. Worauf er wirklich aus war, war der Alkohol, denn alleine in dem konnte er an diesem schlimmen Abend seine Sorgen ertraenken.
Als auch nach dem zweiten Bier der Schmerz nicht nachlassen wollte, ging Thomas zum Wirt vor und bat ihn um etwas Staerkeres, waehrend er grosszuegig ein paar Muenzen auf den Tresen legte. Der Wirt grinste breit und fragte: "Liebeskummer?"
Aber der junge Mann zeigte keine Regung und so musste der Wirt sich damit begnuegen, ihm eine Flasche billigen Kornschnaps zu einem deutlich ueberteuerten Preis zu verkaufen.
Wieder an seinem Platz angelangt, machte Thomas sich gar nicht erst die Muehe, das Gesoeff in einen Becher zu fuellen und setzte die Flasche gleich an den Mund. Es brannte wie Feuer in seinem Hals und aus der wohligen Waerme, die er sich erhofft hatte, wurde ein unangenehmes Ziehen in seinen Eingeweiden.
Was solls?! dachte er sich Ein Schmerz ersetzt einen anderen und dieser hoert wenigstens nach einer kleinen Weile auf...
Die Zeit verging unertraeglich langsam, was es Thomas umso schwieriger machte, sich von seinen Gefuehlen abzuschotten. Wenn er gerade eine besonders ueble Phase durchlebte, hieb er mit der Faust so stark auf die Tischplatte, dass sich die anderen Gaeste kurz zu ihm umdrehten. Als sie aber sahen, dass er offensichtlich schon betrunken war, lachten sie und widmeten sich wieder ihren eigenen Kruegen.
Draussen war es laengst dunkel geworden und die Kneipe leerte sich allmaehlich. Thomas hing an der Flasche, als sei sie das Einzige, was ihn vor dem voelligen Untergang bewahren koennte. Sein Blick war glasig, sein vor Alkohol stinkender Atem ging rasselnd und er fuehlte sich wie ein Haeufchen Elend.
Besorgt kam der Wirt zu ihm herueber und meinte: "Ich glaube, das reicht fuer heute! Du siehst nicht so aus, als ob dir das Zeug gut bekommt!"
Ohne grossen Widerstand liess sich Thomas die Flasche abnehmen – sie war sowieso nahezu leer. Auf den dicken Wirt gestuetzt, quaelte er sich zur Tuer. Mit einem Klaps auf die Schulter sandte dieser ihn davon.
Er hatte erhebliche Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten und haeufig fiel er hin, um sich dann spontan auf das Pflaster zu erbrechen. Noch nie in seinem Leben war er so betrunken gewesen und noch nie hatte er sich so miserabel gefuehlt wie heute Nacht.
Torkelnd, ja teilweise kriechend, fand er den Weg zurueck zu dem Patrizierhaus. Die Treppen zu seinem Zimmer stellten sich in seinem Zustand als unueberwindliches Hindernis dar. Also sank er im Flur zu Boden, rollte sich zusammen und fiel in einen unruhigen alptraumbehafteten Schlaf.
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Zur gleichen Zeit lag Anna in ihrem Bett, hatte das Gesicht in ihrem Kissen versteckt und weinte. Seit Thomas fortgegangen war, hatte die Traenenflut einfach nicht versiegen wollen, und sie hatte das Gefuehl, als koenne sie nie wieder aufhoeren, als koenne sie nie wieder gluecklich sein. Ihr ganzer Koerper schmerzte, die Eingeweide schienen mit Qual zu pulsieren. Als die Gaeste fortgegangen waren, hatte Anselm sie ausgeschimpft, was ihr gerade recht gekommen war, denn so konnte niemand sich wundern, weshalb sie so fertig mit den Nerven war, und es hatte sie auch niemand aufgehalten, als sie in ihr Zimmer gefluechtet war.
Wie sollte sie nur leben, wenn Thomas nicht bei ihr war? Wie sollte sie zusehen, wenn er Berta heiratete? Wenn sie Kinder miteinander hatten? In diesem Augenblick schien der Gedanke, in die Tauber zu springen und das kuehle Wasser einzuatmen, Anna ausgesprochen angenehm, wie eine Erloesung. Aber dann kaeme sie in die Hoelle! Das war das einzige, was sie davon abhielt, auf der Stelle aus dem Haus zu verschwinden und den Plan in die Tat umzusetzen.
Selbst als sie vor Erschoepfung einschlief, flossen die Traenen weiter.
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Als Anna am naechsten Morgen zum Fruehstueck herunterkam, spaeter als sonst, im Nachthemd, die Haare ungekaemmt und wirr den Oberkoerper umgebend, totenblass mit rotgeweinten Augen, waren alle anderen schon in der Kueche am Essen. Auch Thomas war da, aber Anna wagte nicht, ihn anzusehen, weil sie befuerchtete, sofort losheulen zu muessen, wenn sie es tat.
Steif und so langsam, als hingen Bleigewichte an allen Gliedern, liess sie sich auf ihren Stuhl sinken.
Thomas hatte sein Fruestueck noch nicht angeruehrt. Ihm war nicht nach essen zumute und er hatte schreckliche Kopfschmerzen. Es war, als waere sein ganze Kopf voller kleine Zwerge mit ihren Spitzhacken, die sie unablaessig gegen seinen Schaedel schwangen.
Besorgt um ihn, streichelte Berta seinen Nacken und Thomas liess es geschehn. Schliesslich musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, sie wirklich zu heiraten. Er mochte zwar nicht dasselbe wie fuer Anna empfinden und so anmutig war sie auch nicht – aber offensichtlich mochte sie ihn sehr gern und umsorgte ihn ruehrend. Er musste ihr gerechterweise zumindest eine Chance geben, gestand er sich ein.
Anna sah aus den Augenwinkeln, wie Berta ihn liebkoste, und das loeste bei ihr den Wunsch aus, sich auf ihre aeltere Schwester zu stuerzen und ihr jedes Haar einzeln auszureissen vor Eifersucht. Stattdessen liefen nur wieder stumme Traenen ueber ihr huebsches Gesicht.
Lustlos stocherte er auf seinem Teller herum. Thomas war sich Anna's Anwesenheit voll und ganz bewusst, und das machte es nur noch schlimmer. Wie sollte er es ertragen, fortan immer in ihrer Naehe und doch nicht mit ihr zusammen zu sein?
Eine Loesung musste her, zumindest fuer heute! Er wandte sich an Berta und laechelte sie an: "Was haelst du davon, wenn wir heute einen Ausflug machen? Wir koennen uns was zu essen mitnehmen und es uns im Gruenen gemuetlich machen." Hastig drehte er den Kopf zu seinem Schwiegervater in spe und beeilte sich zu sagen: "Natuerlich nur, wenn du mich fuer ein paar Stunden entbehren kannst?"
Anna, die gerade auf einem Stueck Brot herumkaute, spuerte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Allein der Gedanke, dass die beiden es sich irgendwo gutgehen liessen – vielleicht an dem Platz an der Tauber, an dem Thomas und sie sich noch vor wenigen Tagen geliebt hatten – war unertraeglich.
Der nickte nur laechelnd. Wenigstens eine Sache, die in seiner Familie glatt lief! Er war immer noch veraergert ueber seine miesepetrige Tochter, die er bei ihrem Temperament wohl nie verheiraten konnte!
Erst zoegerlich, dann aber bestimmter griff Thomas Berta's Wurstfinger und drueckte sie zaertlich. "Wir koennen gleich nach dem Essen los, draussen ist gerade so schoenes Wetter!" Dass ihm ausserdem die frische Luft bei seinen Kopfschmerzen helfen wuerde, verschwieg er lieber.
Berta nickte uebergluecklich: "Das waere schoen! Ich kenne ein wunderbares Plaetzchen an der Tauber!" "Entschuldigt mich!" konnte Anna noch murmeln, dann sprang sie auf, das Messer fiel klirrend auf den Boden, und sie schaffte es gerade noch in den Hof, wo sie neben der Tuer in die Knie brach und das gerade heruntergewuergte karge Fruehstueck auf den Boden spuckte.
Mitleid wallte in Thomas auf, aber er konnte – durfte! – nicht in der Vergangenheit schwelgen und riskieren, dass sie wieder zueinander fanden. Er zwang sich ein Stueck Brot und etwas Kaese in den Mund und brachte es sogar herunter. Nachdem alle fertig waren, half er Berta, einen Korb mit Leckereien zu richten, die sie mit glaenzenden Augen einpackte. Die beiden verabschiedeten sich von den Eltern und machten sich auf den Weg, wobei man Berta froehlich pfeifen hoerte, bis sie verschwunden waren.
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Anna verbrachte den Tag in schrecklichen Tagtraeumen, ob Thomas Berta wohl an der Tauber so nahe gekommen war, wie ihr selbst. Wie in Trance hatte sie ihre taeglichen Arbeiten verrichtet und die von Berta noch dazu, was Anselm und Hiltrud dazu veranlasst hatte, erstaunte Blicke auszutauschen. Dabei hatte sie kein Wort gesprochen und auf Fragen nur mit Ja, Nein und Schulterzucken geantwortet. Noch niemals hatte sie sich so hundeelend gefuehlt.
Thomas ging es zwar nicht viel besser, aber die nette Gesellschaft und die Natur halfen ein wenig. Sie streiften durch die Wiesen, liessen die Fuesse in der Tauber baumeln und taten sich an den Speisen im Korb guetlich. Berta war so schlau gewesen und hatte ein Brettspiel mitgenommen, so dass ihnen nicht langweilig wurde. Im kam das ganz recht, denn so konnte er wenigstens fuer eine kleine Weile den Schmerz vergessen.
Die Sonne hatte den Zenit deutlich ueberschritten, als sie den Heimweg antraten und eine dreiviertel Stunde spaeter zu Hause ankamen.
Anna deckte gerade den Tisch fuers Abendessen. Hiltrud stand am Herd, aber sie liess ihre Tochter keine Sekunde aus den Augen und belauerte sie ohne Unterlass mit argwoehnischem Blick.
Kaum war Berta durch die Tuer, das schwaermte sie schon los: "Hach, das war ein so schoener Tag heute!" Thomas trottete hinter ihr herein und sagte nichts.
"Mhm!" war alles, womit Hiltrud reagierte. Sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Anna merkte es gar nicht. Sie hatte zuviel Muehe, ihre Traenen zurueckzuhalten, die schon wieder kommen wollten.
Mit einem flauen Gefuehl im Magen setzte sich Thomas an den Tisch und Berta nahm direkt neben ihm Platz. Die Naehe zu Anna brachte die Gefuehle, die er den ganzen Tag erfolgreich verdraengt hatte, wieder hoch. Nervoes rutschte er hin und her und senkte den Blick.
Nach einer Weile kam auch Anselm in die Kueche, und schliesslich sass die ganze Familie zusammen. Das Abendessen begann schweigend. Annas Eltern tauschten unbehagliche Blicke und schienen sich nicht einigen zu koennen, ob ein Gespraech begonnen werden sollte oder wer es begann.
Thomas bemerkte es und fragte sich, was denn passiert sei. Gespannt hielt er den Atem an.
"Anna…." begann Hiltrud ploetzlich, "Ich mache mir Sorgen um dich....du hast dich veraendert. Du bist abwesend, staendig traurig, du uebergibst dich morgens....du hast Gerhild und ihr Verhalten verteidigt....Anna....ist es moeglich, dass du ein Kind bekommst?"
Thomas' Kinnlade klappte herunter. DAS hatte er nicht erwartet! Sicher hatten er und Anna sich mehrfach geliebt, aber der Gedanke, dass das ein Kind hervorbringen konnte, war ihm – und soweit er das beurteilen konnte, auch ihr – nicht gekommen. Auch Berta war von der Frage geschockt.
Mit aufgerissenen Augen sah sie ueber den Tisch zu ihrer Schwester.
Die Luft war so gespannt, dass man sie mit einem Messer haette schneiden koennen.
Es herrschte vollkommene Stille und alle Blicke waren auf Anna gerichtet.
Anna starrte ihre Mutter an. Niemals hatte sie daran gedacht, dass aus dem Liebesspiel durchaus Folgen entstehen konnten, auch wenn sie nicht in flagranti ertappt wurden! Wann hatte sie das letzte Mal ihre Regel gehabt? Vor etwa drei Wochen! Wann muesste sie sie wieder bekommen? Was, wenn sie ausblieb, was dann? Anna wollte in Panik geraten und "ICH WEISS ES NICHT!" schreien, aber dann haette sie sich verraten. Sagen konnte sie allerdings auch nichts. Sie sass auf ihrem Platz wie eine Salzsaeule und bewegte stumm die Lippen.
Anselm ergriff mit zitternder Stimme das Wort: "Wenn wir dir helfen sollen, dann musst du ehrlich zu uns sein! Ich...hast du mit jemandem...?"
Was jetzt? Wenn sie nein sagte und dann wirklich schwanger war…dann konnte sie mit der Hilfe ihrer Eltern vermutlich nicht rechnen. Ihr Blick zuckte fuer den Bruchteil einer Sekunde flehend zu Thomas hinueber. Sie blieb stumm.
Der kaempfte selber grade mit einer Angstattacke. Er war so hilflos wie sie. Wenn sie es geheimhalten wollten, dann durfte er sich nicht einmischen.
"Es reicht!" Hiltrud schlug mit der Faust auf den Tisch. "Wir beide gehen morgen zur Hebamme. Die wird dich untersuchen, und dann ist alles klar!"
O Gott! dachte Thomas. Die Frau wuerde sicher feststellen, dass Anna keine Jungfrau mehr war. Auch wenn Anselm nicht zuliess, dass sie an den Pfahl kam – angenehm wuerde es auf gar keinen Fall fuer Anna werden. Er wuenschte sich so sehr, dass er etwas tun koennte, aber es war aussichtslos!
Anna schien in sich zusammenzufallen. Natuerlich wuerde die Hebamme sofort sehen, dass sie entjungfert war. Es war alles aus! Alles vorbei!
Wie eine Gewitterwolke hing das Unheil ueber dem Tisch. Hin und wieder erlaubte Thomes es sich, zu Anna herueber zu schielen. Er hatte eine Heidenangst um sie und sich selbst. Still ass er seine Mahlzeit, doch innerlich war er zutiefst aufgewuehlt.
Anna konnte nichts essen. Allein bei dem Gedanken kam ihr schon die Galle hoch. Ich bin geliefert! dachte sie nur immer wieder. Sie war gruen im Gesicht. Und in all ihrem Elend fing sie stumm an zu beten, wiederholte im Geiste nur immer wieder: Lieber Gott, lieber Gott, bitte hilf mir, bitte hilf mir! Und das Wunder geschah. Ploetzlich spuerte sie, dass warme Fluessigkeit zwischen ihren Schenkeln hinablief. Blut. Sie war nicht schwanger! Anna fuhr hoch als habe sie etwas gebissen und schrie ploetzlich: "Wie KANNST du so etwas denken, Mutter!? Ich habe mit NIEMANDEM geschlafen, und ich bekomme auch kein Kind!" Damit stuermte sie aus dem Raum.
Betreten starrte Hiltrud auf den kleinen Blutfleck, der auf dem Stuhl zurueckgeblieben war. Man konnte ihr die Erleichterung ansehen, als sie zu Anselm sagte: "Gott sei Dank! Nicht auszusehen, wenn sie wirklich schwanger waere! Trotzdem macht mir ihr Verhalten Sorgen.."
Anselm laechelte froh darueber, dass sie sich geirrt hatten.
Und Thomas fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen.
Berta dagegen wirkte irritiert: "Aber Mutter…wenn sie wusste, dass nichts sein kann, haette sie doch gleich so reagiert, oder?"
Hiltrud sah ihre Tochter an: "Ach, ich weiss doch auch nicht, was mit ihr los ist! Ich verstehe Anna in letzter Zeit ueberhaupt nicht mehr! Sie verhaelt sich vollkommen unerklaerlich!"
Berta musterte Thomas nachdenklich: "Vielleicht ist sie eifersuechtig….weil sie noch keinen Geliebten hat!"
Er blickte sie an: "Ja, vielleicht..."
Zur gleichen Zeit sass Anna im Abtritt, hatte beide Arme um sich geschlungen und wiegte sich weinend vor und zurueck. Dabei wusste sie gar nicht, warum sie weinte, ob Liebeskummer, die Erleichterung oder der tiefsitzende Schock schuld waren. Sie wuenschte sich nur, dass Thomas wenigstens spaeter einmal nach ihr sehen wuerde, nur um zu zeigen, dass ihm nicht voellig gleichgueltig war, was mit ihr passierte.
"Ich sehe besser mal nach ihr!" erhob sich Thomas vom Tisch. Immerhin war er an ihrer Situation nicht unschuldig. Berta nickte und war froh, dass sie es nicht utn musste, denn im Moment hatte sie mit ihrer Schwester nicht das bester Verhaeltnis.
Thomas lief ein paar Minuten im Haus herum, dann fand er sie. Ihr Anblick brach ihm das Herz. Wieviel Schmerz kann ein Mensch wohl ertragen? fragte er sich. Er hockte sich ihr gegenueber an die Wand. Er wollte sie troestend in die Arme nehmen, aber genau das ging doch nicht!
Als er eintrat, klopfte ihr Herz wie wahnsinnig. Eilig wischte sie sich uebers Gesicht, versuchte, die Traenen zu verbergen, aber es war sinnlos, es kamen immer neue nach. Sie konnte ihn nicht ansehen und schaute die ganze Zeit verlegen zu Boden.
Seine Stimme war leise und leicht zittrig: "Anna, ich...wie geht es dir?" Er kam sich dabei unheimlich bloede vor.
"Gut!" log sie, eindeutig und ebenso leise wie er.
Er druckste herum: "Ich bin froh, dass du nicht...dass du nicht schwanger bist. Das haette alles noch viel komplizierter gemacht..."
In diesem Moment hasste sie ihn. Sie schnaubte: "Fuer dich doch nicht!"
Er polterte los: "Glaubst du...", dann besann er sich und senkte die Stimme deutlich: "Glaubst du vielleicht, ich wuerde dich im Stich lassen, wenn du es waerst?"
Sie war zusammengezuckt, als er laut geworden war, hatte sich in ihre Ecke gedrueckt und senkte jetzt den Kopf: "Ich haette niemals zugegeben, wer der Vater gewesen waere!"
"Du haettest es alleine auf dich genommen?" wollte er geruehrt wissen.
"Das wuerde ich nie von dir verlangen, ich hoffe, das weisst du!"
Sie zuckte die Schultern: "Sicher wuerdest du das nicht. Aber was wuerde es uns bringen, wenn wir beide unter der Wahrheit leiden? Nein, nicht nur wir beide....Berta auch noch!"
Betretend gestand er: "Du hast wohl Recht..."
Dass er ihr einfach so zustimmte hatte sie nicht erwartet! Und ihr Liebeskummer verwandelte sich langsam ernsthaft in Wut. Sie nickte und laechelte: "Ja...so ist das....wenn ich schwanger gewesen waere, dann haette ich meinen Mund gehalten, und du auch. Vielleicht haette ich eine huebsche Geschichte von einem fahrenden Haendler erzaehlt, in den ich mich verliebt habe. Und noch vor eurer Hochzeit waere ich im Kloster in Wuerzburg gewesen, haette dort mein Kind zur Welt gebracht, und die guten Schwestern haetten es im Main ersaeuft!"
"Denkst du, das waere mir gleichgueltig? Denkst du das wirklich?" fluesterte er. Dann lauter: "Wenn schon alles zusammengebrochen waere, dann haette ich mir dir mit wehenden Fahnen untergehen wollen...Dass wir nicht zusammensein duerfen, damit muss ich mich wohl abfinden. Aber dass dein Leben zerstoert ist, das wuerde ich nie ertragen!"
"Wollen und tun sind zwei Paar Stiefel, Thomas!" antwortete sie leise. Sie sah ihn immer noch nicht an.
Beschaemt ueber die eigene Schwaeche blickte er zu Boden.
Anna nickte erneut: "Ja....genau so....genau das haettest du getan, wenn ich morgen mit meiner Mutter von der Hebamme gekommen waere!"
Thomas sah ihr direkt in die Augen: "Das ist nicht wahr...Ich will ehrlich zu dir sein: Ich weiss nicht genau was ich gemacht haette. Auch ich hatte heute morgen schreckliche Angst!"
"Das ist mir klar!" Jetzt erwiderte sie seinen Blick. "Schliesslich waere nicht nur mein Leben am Ende gewesen, sondern unter Umstaenden auch deins, wenn ich gesagt haette, wer der Vater ist!"
"Ich haette es dir nicht uebelgenommen – du haettest jedes Recht dazu gehabt!" behauptete er.
"Kein Wort haette ich gesagt." fuhr sie ihn fluesternd an, "Kein einziges Wort! Und weisst du, warum!?"
Schweigend und wie gelaehmt wartete er ihre Antwort ab. Er konnte sich schon denken, was sie sagen wollte und schluckte schwer.
"Weil ich dich liebe!" fauchte sie, "Und weil ich dachte, dir geht es ebenso!"
Da waren diese Worte wieder. Einst so suess, und jetzt bereiteten sie beiden so viel Leid. "Aber ich liebe dich doch auch!" wisperte er und Traenen traten in seine Augen, "Es frisst mich von innen auf, aber es geht einfach nicht, es geht nicht, es geht nicht..." Zum Schluss hin waren seine Worte immer leiser geworden, nur ein Hauch in der Luft.
"Wenn du mich lieben wuerdest", sie schluchzte wieder, "...dann haettest du es da unten am Tisch gesagt! Dann haettest du da unten alle Verantwortung uebernommen und gesagt, dass du mich auf der Stelle zu deiner Frau machen willst, damit ich nicht an den Pfahl oder ins Kloster muss!"
Ihre Worte trafen wie Blitze in sein Herz. Er fuehlte sich schlimm, weil sie irgendwie Recht hatte. Aber was waere aus Berta geworden? Wie haette die Familie reagiert? Haette sein Bekenntnis ein gutes Ende herbeigefuehrt oder alles nur noch schlimmer gemacht? Er wusste es nicht. Thomas konnte auf ihre Vorwuerfe nichts erwidern.
Sie bemuehte sich gar nicht mehr, die Traenen zurueckzuhalten: "Schweigen ist eine Form von Zustimmung, habe ich Recht?"
Mit traenenden Augen und laufender Nase sah er sie wie durch einen Schleier von sich weggleiten. Mit seiner Feigheit hatte er sie beide beschaemt. Nicht, dass er sich nach gestern Abend noch irgendwelche Hoffnungen gemacht haette. Aber wenn sie schon an seiner Liebe zweifelte, dann hatte er alles kaputt gemacht.
Anna stand auf, ging zur Tuer und nahm den Knauf, um zu gehen. Doch dann blieb sie noch einmal stehen und sah auf ihn hinab: "Und weisst du, was das allerschlimmste ist?"
Betruebt schuettelte er den Kopf.
Ihre Stimme ueberschlug sich, weil sie so sehr weinte, aber sie sprach trotzdem aus, was sie dachte: "Du bist ein elender Feigling und du liebst mich nicht, aber ich liebe dich immer noch!"
Haette sie ihn fest ins Gesicht geschlagen – es haette keinen Unterschied gemacht. Thomas zitterte am ganzen Koerper und schaute schluchzend zu Boden.
"Hoer auf zu heulen!" fluesterte sie, "Du hast das, was du Liebe nanntest, gerade mit Fuessen getreten, also trauere nicht darum!"
Wie unter Schlaegen kruemmte er sich und konnte sich nicht beruhigen. Am liebsten haette er sie angeschrien, sie solle verschwinden und ihn nicht so quaelen, aber er brachte nichts heraus.
Sie sah seine Qual. Und konnte es nicht ertragen! Sie liebte ihn eben. "Verdammt nochmal!" fluchte sie noch, bevor sie sich neben ihn kauerte und ihn in die Arme nahm.
Was fuer eine Ironie! Da war er hergekommen, um sie zu troesten und jetzt hatten sie die Rollen getauscht. Hemmungslos weinte er wie ein kleines Kind. Nichts, aber auch gar nichts haette ihn mehr treffen koennen. Wenn er schon am vorigen Abend gedacht hatte, ganz unten angekommen zu sein, dann war er jetzt noch viel tiefer gesunken.
"Schschsch...es ist ja gut. Alles wird gut!" fluesterte Anna und streichelte ueber sein Haar. Gleichzeitig dachte sie, dass er diese bloedsinnige Luege wohl niemals schlucken wuerde, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, um sein Leid zu lindern.
Nach einer schier endlosen Zeit wollten keine Traenen mehr nachkommen. Thomas hob langsam den Kopf und wischte sich mit der Hand uebers Gesicht. Gefuehle durchfluteten ihn, die er nicht fuer moeglich gehalten hatte. Er liebte sie in diesem Moment so wie nie zuvor, dafuer, dass sie trotz seines schrecklichen Versagens zu ihm stand, ihn liebte.
Sie versuchte ein Laecheln, das klaeglich misslang. Dann stand sie auf und oeffnete die Tuer.
Wie in Trance sah er zu ihr auf. Er war sich sicher, dass wenn sie jetzt durch diese Tuer ging, er sie fuer immer verloren hatte.
"Vergiss nie, dass ich dich so liebe, dass ich mein Leben fuer Deins gegeben haette!" wisperte sie. Dann verliess sie den Raum.